Junge Menschen der Generation Instagram müssen Reinhard Spiegel für verrückt halten: Nicht weniger als 24 Stunden reine Arbeitszeit benötigt der 73-Jährige, um aus einem Foto-Negativ eine Druckgrafik zu machen. Für sein Meisterwerk – ein 50 mal 60 Zentimeter großes Bild eines schiefen, dunklen Baumes im Taunus – hat er sogar sechs Tage gebraucht. Fünf Tage Arbeit verwarf er immer und immer wieder, weil er mit dem Resultat noch nicht zufrieden war – bis es am sechsten Tag endlich fertig war. „Nach dem ersten Andruck wurde deutlich – jetzt war es perfekt. Diesen Moment kannst du einfach nicht kaufen“, sagt er. Allein das Motiv habe er 30 bis 40 Mal aufnehmen müssen.

Nach 50 Jahren ist Schluss: Bildermacher Reinhard Spiegel geht in den Ruhestand. Er ist einer der letzten Menschen in Deutschland, die die Heliogravüre-Technik beherrschen. Hier sieht man ihn in seinem Atelier in der Westendstraße 23.
Abschied nach 50 Jahren
Reinhard Spiegel bezeichnet sich selbst als Bildermacher. Den Begriff „Künstler“ empfindet er als „verschlissen“. Zudem erfordert sein Beruf auch ein großes Maß an handwerklichem Geschick. Gut 50 Jahre lang hat er ihn ausgeübt, der sogenannten „Heliogravüre“, einem fast 150 Jahre alten fotografischen Edeldruckverfahren, widmet er sich seit 20 Jahren. Nun zwingt ihn unter anderem die fortschreitende Digitalisierung in den Ruhestand: Er muss sein Künstleratelier in der Westendstraße 23 aufgrund mangelnder Nachfrage schließen. Sein Abschied am 31. Januar 2018 ist nicht nur ein herber Verlust für Wiesbaden und die Region: Gerade einmal eine Handvoll Menschen sind laut Spiegel bundesweit mit der Technik der Heliogravüre vertraut.
Doch was hat es mit dieser Technik auf sich? Reinhard Spiegel geht raus in die Natur, nimmt Fotos mit einer analogen Kamera auf und ätzt das Motiv mittels komplexer, chemischer Verfahren in eine Kupferplatte. Anschließend wird die jetzt fertige Platte mit Farbe in der Kupferdruckpresse auf ein feuchtes Papier gedruckt – der erste verbindliche Abzug der Heliogravüre. Aus der Sicht eines Laien unterscheidet sie sich auf den ersten Blick kaum von einer klassischen Schwarzweiß-Fotografie. Schaut man sich jedoch mit einer Lupe die Beschaffenheit der Linien ganz genau an, so erinnert das „Foto“ im Detail eher an eine Tuschezeichnung.
Bäume ideal für Heliogravüre
„Meine Lieblingsmotive sind in der Natur direkt vor der Haustür. Ich muss nicht zum Grand Canyon fahren, um Steine zu fotografieren“, so Spiegel. „Außerdem haben das schon Hunderte andere gemacht, da muss ich das nicht auch noch machen.“ Organische Formen, wie etwa die von Bäumen oder Gemüse, seien besonders prädestiniert für die Heliogravüre. Jeder digitale Drucker druckt in winzig kleinen Rastern. Bei der Heliogravüre ersetzt feinster angeschmolzener Asphaltstaub die Rasterfolie.
Sein Handwerk stammt noch aus einer Zeit, in der bunte Tapeten und altbackene Familienfotos allmählich von den Wänden deutscher Wohnzimmer verschwanden. Kahle, weiße Wände wollten geschmückt werden. „Die Nachfrage nach Bildern war damals riesig“, sagt er. In den letzten Jahrzehnten hat sie allerdings kontinuierlich abgenommen. Smartphones, Digicams und Drucker sei Dank. „Reich wird man damit sowieso nicht“, sagt Spiegel, „sofern ich etwas Geld verdient hatte, habe ich es immer wieder in bessere Ausrüstung investiert.“
„Ich hätte es gerne bis zu meinem 80. Lebensjahr weitergemacht“
Reinhard Spiegel war Seemann, Busfahrer, machte sein Staatsexamen am Pädagogischen Fachinstitut in Wiesbaden und arbeitete schließlich 50 Jahre als Bildermacher. Motive in akribischer Handarbeit an die Wand zu bringen, hat über mehrere Jahrzehnte seinen Lebensalltag bestimmt. Nun also der Abschied. „Ich hätte es gerne bis zu meinem 80. Lebensjahr weitergemacht“, sagt er.
Der 73-Jährige blickt dennoch positiv auf seinen Lebensweg zurück. „Bilder zu machen ist eben mehr als bloßes Knöpfchendrücken“, sagt er. „Das ist eine wichtige Erkenntnis.“ Im November und Dezember wird Reinhard Spiegel in seinem Atelier noch einmal Ausstellungen veranstalten, um seinen Abschied zu zelebrieren und sein Inventar nach Möglichkeit weiterzuverkaufen.

Heliogravüre von Reinhard Spiegel.
Ausstellungen und Buch zum Abschied
Im „Ruhestand“ wird er eine digitale Galerie im Internet aufmachen und dort seine Grafiken verkaufen. Darüber hinaus erscheint im Herbst noch ein Buch in einer 200er Auflage für 120 Euro das Exemplar über sein Schaffen inklusive einer Vielzahl seiner Werke. Veröffentlicht wird es unter dem Titel „Reinhard Spiegel‘s Art of Heliogravure“ – mit einem Originaldruck vom Meister dieser Kunstart.
Vom 17. bis 19. November findet eine Ausstellung (mit Musik bei der Eröffnung) im Atelier von Reinhard Spiegel in der Westendstraße 23 statt. Beginn am 17. November um 18 Uhr, Samstag Offenes Atelier 12 bis 18 Uhr , Sonntag ist Drucktag 12 bis 17 Uhr. Am Samstag, 16. Dezember, Offenes Atelier von 12 bis 18 Uhr. Internet: www.atelier-spiegel.de Continue reading →