„Sitze ich bei Sonnenschein auf meinem Balkon, – ich hab’ den größten in der ganzen Bülowstraße –, fühle ich mich wie im Himmel!“ Von seinem Lieblingsplatz aus hatte Karoly Kiss am 12. April auch die Luftballons und Glückwünsche auf dem Bürgersteig sehen können, mit denen ihm die Nachbarschaft zum 100. Geburtstag gratulierte.

Karoly Kiss in seinem Wohnzimmer: Der Hundertjährige wohnt alleine im äußeren Westend. Die Bilder an der Wand hat er selbst gemalt.
Gefangenschaft in Russland
Kiss, in den Karpaten geboren, schaut auf ein bewegtes Leben zurück, das für ihn viel Wechsel- und Leidvolles bereithielt. Höchst ungern erinnert er sich an sein Soldatenleben sowohl in der rumänischen als auch in der ungarischen Armee. Diesen Umstand verdankte er – als Mitglied einer ungarischen Minderheit unter rumänischer Herrschaft aufgewachsen – Hitlers Neuaufteilung Rumäniens 1940 zur “Belohnung” des verbündeten Ungarns. Einem Jahr Frontdienst in Russland folgte die Arbeit als Straßenbahnschaffner in Budapest, dann wurde er als Reservist eingezogen und geriet in russische Gefangenschaft. „Da war ich vier Jahre und zwei Monate in der Hölle“, sagt er und mag nicht weiter darüber sprechen.
Flucht nach Deutschland
Zurück in Budapest, erlebte er dort 1956 den Volksaufstand und beschloss zu flüchten: „Denn ich wollte nicht noch einmal in Russland landen!“ Nachdem er über Österreich nach Deutschland gekommen war und Arbeit bei Opel gefunden hatte, fühlte er sich „zum ersten Mal als freier Mensch“. Wiesbaden gefiel ihm von Anfang an gut. „Ich wollte diese elegante Stadt bis heute nicht gegen Budapest tauschen.” Und das Westend, in dem er seit 1976 lebt, liebt er aufgrund der Ruhe, der Sauberkeit und des üppigen Grüns, auch wenn ihm in den vergangenen Jahren „zu viele Fremde auf den Straßen sind“.
Doch er genießt hier die freundliche Nachbarschaft, wie Tochter Monika erzählt. Sie ist als „Dolmetscherin” gekommen, hilft ihrem „Papa” liebevoll beim Interview und bereitet ihm einen starken Kaffee zu. Monikas Geburt bezeichnet Kiss als besonderen Höhepunkt seines Lebens: „Sie brachte Sonnenstrahlen in mein Leben und hielt mich davon ab, einen falschen Weg zu gehen. Denn bei allem, was ich tat, dachte ich: ‚Ich habe eine Tochter’”, sagt er und lacht sie an.
Zum Hundertsten viel Sonnenschein für die Gelenke
Als Geschenk betrachtet er auch seine schöne Wohnung im äußeren Westend, die er immer wieder umdekoriere. Die Bilder an den Wänden sind selbst gemalt und zeugen von großem Talent. Das gilt für die nackte Schöne ebenso wie für den Mann im Schnee oder die Zigeunermusikanten. „Ich muss meiner Fantasie immer freien Lauf lassen, immer über Politik oder Natur nachdenken und immer etwas planen“, sagt der Hundertjährige, der bis vor Kurzem noch Schach spielte. Er besaß einen Schach-Computer, wie Monika Kiss erzählt. Dieser sei mit Spielen des russischen Meisters Sacharow programmiert gewesen und ihr Vater habe den Russen auf seinem PC zweimal besiegt. „Ich konnte aber nicht aufhören, über den nächsten Zug nachzudenken, weil ich alles durchsetzen muss, was ich mir vornehme. Und deshalb habe ich den Computer abgeschafft.”
Körperlich gehe es ihm weniger gut, „doch wenn Schmerzen kommen, jag‘ ich sie weg“, sagt er und demonstriert im Sessel seine regelmäßigen Übungen. Schließlich hatte er während der Betreuung seiner inzwischen verstorbenen vierten Ehefrau, die dement war, einen Herzinfarkt erlitten. Aber davon erholte er sich wieder und nun wünscht er sich zum Hundertsten „nur noch viel Sonnenschein für die Gelenke und Frieden für die ganze Welt”.
Text: Angelika Eder
Fotos: Erdal Aslan, Karoly Kiss, Bruno Bernhard
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