
Diese Zerstörung in der vorderen Wellritzstraße wurde von einer englischen Luftmine, einem sogenannten Blockbuster, verursacht.
Hans Peter Schickel (77) wohnt seit seiner Geburt im Westend. In diesem Blog erzählt er aus seinem Leben im Viertel. Die aktuelle Folge handelt von der Bombardierung Wiesbadens im Zweiten Weltkrieg und ihren Folgen. Als Achtjähriger überlebte Schickel die Angriffe in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1945 in einem Luftschutzkeller unter dem Georg-Buch-Haus.
Sie kamen ziemlich exakt um Mitternacht. Wir wissen heute, dass es die Bomber der Royal Air Force waren. Die Alliierten hatten für den Bombenkrieg eine Arbeitsteilung vereinbart – nachts die Engländer, tagsüber die US Air Force.
Der auf- und abschwellende Heulton der Sirenen riss uns aus dem Schlaf: Vollalarm! Wir schliefen in Unterwäsche, um bei Gefahr schnell komplett angezogen zu sein. Meine Mutter sagte zu mir: „Wir dürfen nicht leichtsinnig sein, komm, beeile Dich.“ Jetzt wurde es ernst. Ein Korb mit Windeln für meinen neun Monate alten Bruder stand stets griffbereit. Wir rannten das spärlich beleuchtete Treppenhaus hinunter, ich voran. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass der Luftschutzkeller unseres Wohnhauses in der Wellritzstraße 47 verschlossen war. Diejenigen der Hausgemeinschaft, die dort bei Gefahr gewöhnlich zusammentrafen, waren nicht da.
Dumpfe Schläge, grelle Blitze
Meine Mutter hatte es bisher stets abgelehnt, einen öffentlichen Luftschutzkeller aufzusuchen. Die Gefahr einer Ansteckung, zum Beispiel mit Keuchhusten, sei für meinen kleinen Bruder dort zu groß. Meine achtjährige Psyche konnte dieser vernünftigen Haltung nichts abgewinnen. Mitten unter anderen Menschen zu sein gab mir das Gefühl der Sicherheit. Dass mein Herdentrieb mich im Falle einer Massenpanik einer großen Gefahr ausgesetzt hätte, wollte ich nicht wahrhaben.
Inzwischen kamen harte Explosionsschläge, begleitet von grellweißen Lichtblitzen aus Richtung Westendstraße bereits bedrohlich nahe. Kurz entschlossen entschied meine Mutter, die Wellritzstraße mit schnellen Schritten zu überqueren und mit uns zusammen in den öffentlichen Luftschutzkeller der Gewerbeschule (heute Georg-Buch-Haus) „abzutauchen“. Der Keller war überfüllt, wir mussten stehen. Der Boden schwankte bei jedem Einschlag.
Familie stirbt in Mehlkammer
Die dumpfen Schläge, die von draußen hereindrangen, das flackernde Licht, das phasenweise bis auf eine Notbeleuchtung ganz ausfiel, die ganze angstgeschwängerte Situation ließ auch Erwachsene in ihrem ohnmächtigen Ausgeliefertsein verzagen. Flehentlich wandte sich eine Frau an einen etwa 13- bis 15-Jährigen in der Uniform der Hitlerjugend: „Gell, Bubsche, gell, du hilfst mir.“ „Mei lieb Fraa, ich bin doch ach nit bombesicher“, versetzte er in waschechter Wiesbaden-Mundart trocken und in scheinbar stoischer Gelassenheit. Trotz des Infernos draußen reagierte meine Mutter darüber amüsiert. Sie war mein Fels in dieser Brandung und gab mir Halt und Zuversicht.

Die zerstörte Bäckerei befand sich gegenüber des gezeigten Schuttberges in der Walramstraße (Blick von der Emser Straße aus). Unter einem ähnlichen Trümmerberg kam die Bäckerfamilie Spiegel ums Leben.
Nach einer kleinen Ewigkeit kam die Entwarnung. Draußen war die Luft erfüllt von dem intensiven Geruchsmix aus Brand und Mörtel. Das Haus in der Walramstraße gegenüber der Einmündung Sedanstraße brannte lichterloh. In der vorderen Wellritzstraße und in der oberen Walramstraße an der Einmündung zur Emser Straße gab es riesige Schutthaufen – Volltreffer. Die vierköpfige Bäckerfamilie Spiegel in der oberen Walramstraße hatte geglaubt, in ihrer tief liegenden Mehlkammer sicherer zu sein als im Luftschutzkeller ihres Hauses, der ihr dank vorgesorgter Mauerdurchbrüche einen Fluchtweg geboten hätte. Sie wurde verschüttet. Ihr Klopfen soll noch länger zu hören gewesen sein. Rettungskräfte standen nicht zur Verfügung. Ihre Mehlkammer wurde ihnen zum Grab.
In den von Bombeneinschlägen verschont gebliebenen Häusern waren viele Fensterscheiben durch den Luftdruck der Detonationen zu Bruch gegangen. Abgeschlossene Wohnungstüren hatte die Wucht der Explosionswellen aus dem Schlossfang gerissen. Der Volltreffer in der oberen Walramstraße hatte eine fatale Langzeitfolge. Die Wasserversorgung für den gesamten Wohnbereich einschließlich der Nordzeile der Wellritzstraße war unterbrochen. Ein Jahr lang schleppte meine Mutter täglich bis zu 14 Eimer Wasser von einer Zapfstelle in der Gewerbeschule gegenüber in unsere Wohnung im dritten Stock der Wellritzstraße 47.
Text: Hans Peter Schickel
Fotos: Stadtarchiv
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