Hans-Peter Schickel (77) lebt seit seiner Geburt im Westend. Auf dieser Seite erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der ersten Folge der Serie geht es um eine Notlüge im Jahr 1944, die er als knapp Achtjähriger brauchte, um zwei Brote zu besorgen.
Die Nazis hatten, als sie den Zweiten Weltkrieg begannen, ihre Lehre aus dem berüchtigten Steckrübenwinter 1917 gezogen, als Hungersnot im Deutschen Reich herrschte. Also wurden die wenigen Lebensmittel rationiert. Die Zuteilung der einzelnen Nahrungsmittel wie Mehl, Zucker, Eier oder Brot pro Monat pro Person war mithilfe von Lebensmittelmarken auf einer Lebensmittelkarte zu erkennen. Die Marken waren ebenso wichtig wie Geld, nein, wichtiger. Deshalb gab meine Mutter die Lebensmittelkarten nie aus der Hand. Es gab die berechtigte Befürchtung, diejenigen hinter der Verkaufstheke könnten sich im unbewachten Augenblick per Schere im eigenen Interesse bedienen.
Es ist Sommer des Jahres 1944. Ich bin noch keine acht Jahre alt. Meine Mutter gibt mir den Auftrag, beim Bäcker Busch zwei Dreipfundbrote zu holen. Dafür gibt sie mir das passende Geld und zwei Brotmärkchen zu je 1500 Gramm – kleine rechteckige grüngraue Papierfitzel. Die Bäckerei Busch befindet sich Ecke Hellmund- und Wellritzstraße, exakt dort, wo heute der Obst-und Gemüsehändler Bucak seinen Sitz hat. Rund um diesen Bereich gab es viele Lebensmittelläden: Bäckereien, Metzgereien oder ein Fischgeschäft. Aber auch Schreibwarengeschäfte hat man hier gefunden.
Zurück zur Bäckerei Busch: Mein Schul- und Jugendfreund Horst aus der Wellritzstraße 46 begleitet mich. Horst ist einer, der sich gerne männlich draufgängerisch präsentiert. Straßenkämpfe zwischen der Wellritz- und der Sedanstraße lässt er nie aus.
Plötzlich sind die Essensmarken weg
Beim Bäcker Busch angekommen stelle ich entsetzt fest: Das Geld ist da, die Märkchen sind weg. Ich muss sie verloren haben. Eine Katastrophe. Zwei Dreipfünderbrote unverhofft zu verlieren bedeutet einen schwerwiegenden Verlust. Und das durch meine Unachtsamkeit. Mich packt die Angst. Das wird mir meine Mutter nicht verzeihen. Meine erste Einsamkeitserfahrung, denn mein sonst so tollkühner Freund erweist sich bei der Bewältigung dieser Notlage als Totalausfall. Er heißt im Moment nicht Horst, sondern Rudi Ratlos. Da muss ich jetzt alleine durch.
Ich steige die drei Stufen hinauf, die es heute noch gibt, hinein in die duftende Bäckerstube. Es gibt eine Warteschlange. Als ich dran komme, verkünde ich äußerlich verwegen, innerlich verzagt: „Ich möchte die zwei bestellten Brote für Schickel abholen. Die Marken hat meine Mutter schon abgegeben, das Geld habe ich hier.“ Sachlich betrachtet eine völlig unschlüssige Behauptung. Warum sollte meine Mutter bei der Bestellung die Marken abgegeben haben und nicht auch das Geld? Die Überprüfung im Bestellbuch ergibt, was den Fakten entspricht – es gibt keine Bestellung. Ich bin mir aber in meiner Not gewiss: Ohne die Brote kannst Du nicht nach Hause kommen. Und verharre deshalb wie angewurzelt in Wartehaltung. Bis eine Mitarbeiterin nach einer Zeit des quälenden Wartens schließlich ihre Chefin fragt: „Und was machen wir jetzt mit dem Jungen?“ „Es wird schon stimmen“, erwidert sie kurz angebunden, „geben sie dem Jungen die Brote.“
In diesem Augenblick rollten mir nicht nur zwei Dreipfünder-Steine vom Herzen. Mein Macho-Freund, der vor dem Laden auf mich gewartet hatte, konnte meinen Erfolg nur staunend zur Kenntnis nehmen: „Das hätte ich nicht geschafft.“
Text: Hans-Peter Schickel//
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